Ästhetische Bildung stört Einbildungen (Pazzini 2004)

Forschen, Denken, Lesen, Schreiben, Rechnen, Lehren, eigentlich alle Aktivitäten brauchenbegleitende Imaginationen. Sie öffnen Kombinationsmöglichkeiten, verschließen andere.Vorstellungen, Phantasien, Meinungen, notwendige Vor“urteile“, insbesondere die, die sichauf Sichtbarkeit stützen, haben eine aggressive Tendenz zur Schließung, zum Totalitären-politisch gefährlich.Da wir aber ohne nicht auskommen, müssen imaginäre Potentiale und ästhetische Urteiledauernd beforscht werden, weil diese auch in andere Handlungen eingehen, diese ermöglichenund begleiten. Das geschieht ganz wesentlich in den Künsten. Und dies sollte auch inder Schule vorkommen.Manche Einbildungen, bestimmte Sorten von Bildern, gefährden momentan die Lebendigkeiteuropäischer Weiterentwicklung, z.B. die, die davon ausgehen, dass es doch irgendwo jemandengeben müsse, der für uns sorgt, obwohl Gott totgesagt ist. Oder es entsteht eine Wagenburgmentalität.Oder Bilder von einem harmonischen, spannungsfreien Nebeneinander undIneinander (von der Sexualität bis zu den unterschiedlichen Kulturen), Bilder kindlicher Allmachtsphantasien,die etwa dazu führen, gegen das Haus zu treten, wenn man mit einem Dreiradum die Ecke fährt und das eine Hinterrad an der Hausecke hängen bleibt.Wir brauchen Forschung nicht nur in der Form der Entwicklung neuer technischer Verfahrenund Produkte, die unter den Bedingungen globaler Märkte funktionieren. Sondern gerade umdiese wahrscheinlicher zu machen, braucht es auch Forschung, die die individuelle Wahrnehmungsmöglichkeitunter die Lupe nimmt und im Prozess der Forschung selber differenziert.Forschung – auch im Alltag als Neugier – ist angewiesen auf Öffnung, auf ungewöhnlicheKombinationen. Es bedarf begleitenden Vorstellungen, die öffnen und einen Halt bieten. Wohernehmen?Kunst, so zeigt die Erfahrung, öffnet und zerstört Einbildungen. Denn oft stimmt Kunst nichtmit den normalisierten Einbildungen und abgelagerten Identifikationen überein. Kunst greiftdirekt auf solche Einbildungen zu. In den Wissenschaften hingegen ist das nur ein beilaufender,nicht direkt thematisierter Strom. Thematisierung aber produziert Widerstand auf Seitender Normalität (wegen der zugemuteten Änderungen, wegen der „Unverständlichkeit“), aberauch auf Seiten der Forschenden und der Rezipienten.Kunst (in der Produktion wie in der Rezeption) kann das Ich in Schwingungen versetzen.„Ich“ gerät ins Gleiten. Wenn man dies still stellen will, muss man entweder dumm oder starkwerden. (Beides ist in den gegenwärtigen Reformen des Bildungswesens angelegt.) Es sollContent angeeignet werden, vorher modularisiert. Wissen wird substanziell verstanden, wiezu Zeiten des Nürnberger Trichters. Dieses Wissen (innovativ, versteht sich) zu produzierenist Ziel der Forschung, es besser zu vermitteln ist Aufgabe von Didaktik (als Gleitmittel undbunte Verführung), die verhelfen soll sich auch ohne Begehren und Lust Zugang zur nächstenGeneration zu verschaffen (Eigentlich ist das Kindesmisshandlung). Gerade nach PISA geisterndurch pädagogische Diskussionen Vorstellungen von Beherrschung und Bemeisterung verborgen unter Bezeichnungen wie Kompetenz, Qualifikation, Evaluation, Effektivierungund Praxisbezug.Unser „Ich“, also wir alle, sind ausgezeichnet durch eine Drift zur Wiederholung. „Ich“ ist aufBekanntes angewiesen, draußen und drinnen, sonst wird es schnell konfus. Es neigt dabei zuWiederholungen, die wenig produktiv sind, die alltagssprachlich als Faulheit und Dummheitbezeichnen werden.Mit solchen Wiederholungen konfrontiert Kunst gerade dann, wenn sie irritiert, sie machtdeutlich, dass selbst das Sensorium, die Wahrnehmung auf der Suche nach der Realitätsprüfungso angelegt ist, dass etwas wieder gefunden werden soll, dass einmal nützlich, sinnvoll,genussreich, angenehm gewesen ist. Wahrnehmung findet das Gewünschte notfalls dort, wonichts dergleichen wahrzunehmen ist (Halluzination). Dieser Leerlauf der Gewohnheit (manchemodularisierte Curricula könnte man auch als Leerlauf der Gewohnheit bezeichnen) führtzu Sinnverlust und selten von selbst zur Chance der Bildung neuer Einstellungen.Kunst forscht an dieser Grenze der Einbildungen von Autonomie, kippt mal in die Nabelschau,verunglückt oder kritisiert die im Kapitalismus versprochene Möglichkeit absoluterSelbstverwirklichung durch permanente Innovation – oft durch Übertreibung: dauernd wasNeues.Forschung in der Kunst ist aber vielleicht die Suche nach Bleibendem durch dauernde Veränderung,ein Paradox. Eine Art subversiver Stabilität. Ebenso befasst sich künstlerische Forschungmit einer Kritik der Ideologie des Glücks (eine Thematik, die in wissenschaftlicherForschung, zumal in naturwissenschaftlicher) nicht vorkommt, aber den Alltag prägt. Hiersteht Kunst wiederum auf der Kippe, zwischen dem weinerlichen Betonen von Leiden amKörper, der Sexualität etc. und dem Beharren auf dem Vorschein anderer Glücksmöglichkeitenals den konsumistischen.Die Befassung mit Bildender Kunst in pädagogischen Aktionen bringt zur Auseinandersetzungmit Arbeiten, die die Grenze des Darstellbaren markieren und überschreiten. Bildung istdie gelebte Darstellung von Forschungsergebnissen im Lebenskontext.Kunstvermittlung ist Anwendung von Forschung aus der Kunst, zumindest die Anregung dazu.Damit dies gelingt und indem dies gelingt, wird das „Ich“, jenes festgefahrene, mit denTräumen von Autarkie und Selbstverwirklichung, der Ich-AG, geöffnet hin auf ein vielleichtstarkes soziales Band.Forschungsergebnisse aus der Kunst existieren nicht als fertige Substanz, sondern werdenwirksam erst in Beziehungen. Sie finden statt in einem intermediären Raum, zwischen Medienund durch Medien. Sie entstehen in einem Prozess der Übersetzung. Die sedimentiertenWerke oder die Kristallisationsformen künstlerischer Arbeit brauchen, der Partitur ähnlich,eine Aufführung, Performance. So wird die Wahrscheinlichkeit für Bildung erhöht. Mehrkann man nicht tun. Bildung kann man nicht intentional herbeiführen. Auch dazu führt diepädagogisch inspirierte Beschäftigung mit Kunst. Sie konfrontiert höchst anregend mit derGrenze der Lehr- und Lernbarkeit – und dann macht es wieder Spaß, dazu noch mit derNichtplanbarkeit und Beherrschbarkeit von Menschen. So gesehen wäre die Befassung mitKunst gleichzeitig ein ethisches Übungsfeld, gerade trotz und durch die Amoralität mancherKunst.