Kontrolle und Selbstkontrolle. Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen

Bei der Beschäftigung mit Fragen der Kontrolle und Selbstkontrolle in Bildungsprozessen stoßen interessierte Leserinnen und Leser auf unübersichtliches Terrain. Die Beiträge des soeben in der Reihe »Medienbildung & Gesellschaft« erschienenen Sammelbandes sollen aus verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen pädagogischen Praxen Licht ins Dunkel bringen: Am Beispiel der Arbeit mit der E-Portfolio-Methode skizzieren die Autorinnen und Autoren das diffizile Zusammenspiel aktueller Medientechnologien und Kulturtechniken, dessen unterschiedliche Formen und Varianten in einem Spannungsfeld verortet werden müssen. Die genauen Koordinaten für tiefreichende Kontroversen ergeben sich aus der Unterscheidung von Fremd- und Selbststeuerung und möglichen Folgen für Bildungstheorie und –praxis.


Meyer, Torsten; Mayrberger, Kerstin; Münte-Goussar, Stephan; Schwalbe, Christina (Hg.): Kontrolle und Selbstkontrolle. Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2011.
Bei der Beschäftigung mit Fragen der Kontrolle und Selbstkontrolle in Bildungsprozessen stoßen interessierte Leserinnen und Leser auf unübersichtliches Terrain. Die Beiträge des soeben in der Reihe »Medienbildung & Gesellschaft« erschienenen Sammelbandes sollen aus verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen pädagogischen Praxen Licht ins Dunkel bringen: Am Beispiel der Arbeit mit der E-Portfolio-Methode skizzieren die Autorinnen und Autoren das diffizile Zusammenspiel aktueller Medientechnologien und Kulturtechniken, dessen unterschiedliche Formen und Varianten in einem Spannungsfeld verortet werden müssen. Die genauen Koordinaten für tiefreichende Kontroversen ergeben sich aus der Unterscheidung von Fremd- und Selbststeuerung und möglichen Folgen für Bildungstheorie und –praxis.
Diese Differenz ist allerdings keineswegs exklusiv zweiwertig, sie erlaubt Zwischentöne – und gerade das macht sie so unbequem: die Konsequenzen einer Steigerung der Eigenverantwortlichkeit lassen sich prima facie in beide Richtungen bewerten: Ein Zuwachs von Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit geht nicht nur mit einer Steigerung von Freiheit einher – im Kontext der Forderungen nach selbstunternehmerischem Bildungsmanagement und effizienter Selbstoptimierung können auch neue Formen der Unfreiheit erkannt werden. Die Differenz von Fremdbestimmung und Selbststeuerung ist tückisch, das Problem scheint grundsätzlich; der Gedanke an eine Iteration des pädagogischen Paradoxes – der Frage, wie man »die Freiheit bei dem Zwange« kultiviere – liegt nahe.

Diagnosen

Bereits in der Einleitung zum Sammelband ist eine erste Diagnose vermerkt: Im Erziehungssystem pendelten sich derzeit Machtverhältnisse zwischen Surveillance und Sousveillance ein, zwischen Überwachung von oben und unten. Beobachtung, Vergleich, Korrektur, Anwesenheitskontrolle, Prüfungen, Fächerwahl, Evaluation und Notenvergabe – an Anlässen mangelt es sicher nicht. Dem E-Portfolio kommt hierbei eine zentrale Rolle zugute: als Medium erlaubt es Lernenden die (Selbst-) Beobachtung und Reflexion eigener Bildungsprozesse; von Fortschritten oder Stagnation – und Formen des eigenen Wissens oder Nicht-Wissens. Und nicht zuletzt erlaubt das E-Portfolio dabei eine optimierte Selbststeuerung der Lernenden. Chancen und Risiken liegen nah beieinander.

Kontexte

Als gemeinsame Basis der Auseinandersetzung mit der E-Portfolio-Methode dient den Autorinnen und Autoren die im Sommersemester 2009 an der Universität Hamburg organisierte Ringvorlesung »Medien & Bildung: Kontrolle und Selbstkontrolle in Bildungszusammenhängen«, deren Zielsetzung es war, einen interdisziplinären Blick auf die Steuerungsproblematik in Bildungsprozessen zu richten. Insbesondere wurden dabei jene rezente medientechnologische Innovationen berücksichtigt, die unter den Schlagworten »Web 2.0« beziehungsweise »Social Web« firmieren. Im Rahmen der Ringvorlesung konnten Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Informatiker und Pädagogen praktisch-didaktische wie auch medienphilosophisch-theoretische Impulse zum Thema liefern. Zusätzlich konnten Sprecherinnen und Sprecher des im Rahmen des ePUSH-Projektes auf der Campus Innovation 2009 organisierten E-Portfolio-Tages für die Mitarbeit am Sammelband gewonnen werden,  deren Vorträge und Diskussionen einen Tag lang aufschlussreiche Einblicke in die mittelfristigen Erfahrungen mit der zunächst vielerorts euphorisch adaptierten E-Portfolio-Methode erlaubten.

Inhalte

  • Der erste Abschnitt des Buches versammelt unter der Überschrift »Perspektiven« in Form von kurzen Statements, Thesen und Erfahrungen der verschiedenen Autorinnen und Autoren unterschiedliche Schlaglichter auf das E-Portfolio. Als grundlegender Problemaufriss und Einführung in den aktuellen Stand der Diskussion kann das Kapitel als ein »Portfolio über das Portfolio« verstanden werden.
  • Im zweiten Kapitel, das mit »Umsichten« überschrieben ist, werden vor dem Hintergrund rezenter Medientechnologie und –kultur unterschiedliche Subjektivierungsformen und –praxen beschrieben und analysiert. Im vorangegangenen Abschnitt eingeführte Aspekte werden theoretisch entfaltet und der Blick auf das Problemfeld geweitet.
  • Berichte aus der E-Portfolio-Praxis bietet anschließend der dritte Teil des Buches, »Einblicke« genannt. Die Autorinnen und Autoren versammeln ein breites Spektrum an Erfahrungsberichten und Reflexionen des E-Portfolio-Einsatzes an Schulen und Hochschulen sowie in der Referendarsausbildung. Es kommen dabei sowohl Lehrende als auch Lernende zu Wort.
  • Der vierte und letzte Abschnitt, »Ansichten«, fokussiert das E-Portfolio unter explizit erziehungswissenschaftlichen bzw. bildungstheoretischen Gesichtspunkten – beispielsweise in Hinblick auf die Möglichkeit curricularer Implementierung, spezifischer Kategorisierung verschiedener Portfolio-Formen sowie unter Berücksichtigung erster Praxisauswertungen.

To be continued…

Das E-Portfolio steht derzeit am Anfang einer (mutmaßlich steilen) Karriere an den Bildungsinstitutionen im deutschsprachigen Raum. Eine kritische Begleitung und Diskussion bei seiner bildungspolitischen Implementierung ist wichtig und aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive dringend notwendig. Der vorgelegte Sammelband bietet ein erstes Resümee und die Basis für weitere Auseinandersetzung mit diesem für Bildungsprozesse so ambivalenten Medium.
Mit Beiträgen von: Peter Baasch, Peter Baumgartner, Detlev Bieler, Iris Bruckner, Thomas Czerwionka, Matthias Finck, Thomas Häcker, Sara Haese, Wolf Hilzensauer, Klaus Himpsl-Gutermann, Benjamin Jörissen, Rudolf Kammerl, Sönke Knutzen, Anne-Britt Mahler, Kerstin Mayrberger, Marianne Merkt, Torsten Meyer, Stephan Münte-Goussar, Corinna Peters, Sebastian Plönges, Ramon Reichert, Gabi Reinmann, Theo Röhle, Sandra Schaffert, Christina Schwalbe, Silvia Sippel, Thomas Sporer, Thomas Unruh.
305 Seiten | EUR 39,95 | ISBN: 978-3-531-17683-3 | VerlagsseiteAmazon-Link
Dieser Beitrag wurde ursprünglich unter der Adresse http://seltsame-schleifen.com/kontrolle veröffentlicht. Dort finden sich weitere Artikel zum Thema E-Portfolio oder Paradoxien.

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