»Die Welt wird nie wieder analog« – Ulrich Proeschel (PAGE Nr. 08/01)
Editorial des Themenheftes Medien & Bildung (.pdf, ca. 5,5 MB) für das Sommersemester 2014.
Provokante Thesen wie die 2001 von Ulrich Proeschel getroffene Aussage können und sollen nachdenklich stimmen: Ist die Welt heute, im Jahr 2014, digital? Oder ist man Wanderer zwi-schen zwei Welten, einer digitalen und einer analogen? Ist Letztere durch Erstere bedroht? Wird sich unser komplettes Leben irgendwann digital abspielen? Zur Zeit gehören Liebesgeschichten mit einem Betriebssystem, wie sie etwa im jüngst veröffentlichten Kinofilm »her« (Seite „Her (2013)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Abgerufen: 10. April 2014, 09:32 UTC). Trailer zum Film) erzählt wird, noch ins Genre der Science Fiction. Bemerkenswert ist aber, dass selbst hier, im Szenario weitreichendster Digitalisierung, der Regisseur und Drehbuchautor Spike Jonze der Echtheit des Digitalen misstraut. Als Resultat solcher Skepsis wird das Analoge der Welt betont. Diese Dialektik lässt sich auch außerhalb des Kinos beobachten, beispielsweise im Bereich der Fotografie: Wurde digitale Fotografie gerade unter Experten anfangs nicht ernst genommen, hat sich das Bild mit zunehmender Qualität der technischen Geräte und ihrer Durchsetzung am Markt grundsätzlich gewandelt. Mittlerweile lassen sich analoge Fotoartikel fast nur noch im wohlsortierten Fachhandel erwerben; analog produzierten Bildern wird im Vergleich zu beliebig duplizierbaren digitalen ein eigenartiger Mehrwert zugesprochen. Die Aufwertung des Analogen geht sogar so weit, dass nachträglich Fehler (Körnung, Staub, Kratzer…) in digitale Formate eingearbeitet werden. Beim Briefverkehr können ähnliche Entwicklungen beobachtet werden: Wer heutzutage anstelle von Kurznachrichten, E-Mails oder eben digitalen Schnappschüssen in Retro- Optik eine »ganz normale« Postkarte erhält, dem widerfährt schon etwas Seltenes.
Der Medienwissenschaftler Michael Giesecke war es, der ein aus gruppendynamischer Forschung inspiriertes Phasenmodell des Generationswechsels auf Medien übertrug. Dabei identifizierte er drei Phasen, für die er sowohl bei der Beschreibung menschlicher Sozialisationsprozesse als auch für die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien Geltung beansprucht: Ablösung, Gegenabhängigkeit und Autonomie. (Michael Giesecke: »Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft«, Frankfurt/Main 2002) Angewendet auf Transformationsprozesse an den Übergangsphasen medialer Kulturen bedeute dies, dass sich das neue Medium zunächst immer in Koordination mit und in Abgrenzung zu aktuell vorherrschenden Medien entwickelte. Dafür sind in der Regel Übersetzungsleistungen nötig. Solche können für das digitale Medium auch gegenwärtig noch an allerlei Skeuomorphismen beobachten werden; (medien-)historisch ist ein Blick auf die Symbolik von Programm-Icons aufschlussreich – oder wann haben Sie das letzte Mal zum Speichern eine Diskette genutzt? Auch in der Phase der Gegenabhängigkeit wird noch in einer der alten Medien immanenten (Bild-)Sprache operiert: »Um das eine zu erklären, muss man sich von dem anderen abgrenzen. Beide Seiten brauchen einander.«
Vielleicht ist der beste Beweis für die fortschreitende Durchdringung des Alltags mit digitalen Medien und ihre zunehmende Selbstverständlichkeit der Umstand, dass darüber kaum noch gesprochen wird beziehungsweise analoge und digitale Praktiken nicht mehr notwendig in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt werden: Ein Online-Bibliothekskatalog dient als Wegweiser zu gedruckten Büchern, mit deren Hilfe wiederum digital neues Lehr- und Lernmaterial produziert und ausgetauscht werden kann. Digitale Tafeln und Internetzugang findet man neben Stift und Papier immer häufiger in Hamburger Klassenzimmern – nur zwei Impressionen aus der Bildungswelt, an denen eine neue Selbstverständlichkeit deutlich wird.
Eine Schule ohne Homepage fällt heutzutage eher auf als eine mit, und eine Universität ohne Internetauftritt ist wohl schlicht und einfach nicht mehr denkbar. Die Phase der Autonomie zeichne sich durch eine Synthese aus, durch ein neues Paradigma und eine unmerkliche, selbstverständliche und produktive Nutzung des neuen Mediums – »der Erfolg von Medien besiegelt sich in ihrem Verschwinden«, bilanziert Sybille Krämer (Sybille Krämer: »Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität«, Frankfurt/Main 2008 ). Der Prozess der Mediumentwicklung ist sicherlich nicht abgeschlossen. Noch wäre ein solcher Abschluss exklusiv. Entscheidend ist, dass die Evolution gesellschaftlicher Hauptverbreitungsmedien (im Sinne Niklas Luhmanns) niemals im Hoheitsanspruch eines einzigen Mediums resultierte: Der Gebrauch von Medien überlagert sich, er löst sich nicht ab. Es wird auch weiterhin geredet, (handschriftlich) geschrieben und gezeichnet werden. Man tut gut daran, von Fall zu Fall zu entscheiden. Wir legen nahe, die Wahl zwischen analog und digital nicht als ausschließendes »Entweder – Oder« misszuverstehen. Ohne Zweifel: die Digitalisierung hat zu massiven Veränderungen der Welt geführt.
Aber machen wir uns auch nichts vor: Die Welt war, ist und bleibt analog. Es bleibt wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums (sowie eines geeigneten Mischungsverhältnisses von digital und analog) zu erproben und neue Herangehensweisen zu entdecken. Hierbei gilt es technische Weiterentwicklungen ebenso zu berücksichtigen wie bereits gemachte Erfahrungen und Anforderungen. Sich ausschließlich an bereits beschrittenen, womöglich sogar ausgetretenen Pfaden zu orientieren wäre fatal – selbst bei bester Vorbereitung ist man vor Sackgassen nicht gefeit (404!).
Was geschieht, wenn selbstverständlich gewordene Wege plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen (in der Techniksoziologie ist nicht zufällig von der Gefahr der »Pfadabhängigkeit« die Rede…)? Die Erkundung unbekannten Terrains bleibt für eine zeitgemäße Medienbildung und -didaktik notwendig; ebenso wie das kreative Experimentieren mit den verfügbaren Möglichkeiten. Das digitale Medium erlaubt uns hierbei zwei simultane Bewegungen: Hinaus in die Welt – und die Welt ins Haus. Die dabei gesammelten Erfahrungen sollten dokumentiert (kartographiert) und mit-geteilt (Siehe: Editorial Themenheft Medien und Bildung Nr. 23) werden, so dass gemeinsam gelernt und auf dem Erfahrungswissen Anderer aufgebaut werden kann. In diesem Sinne: Lassen Sie sich weiterhin überraschen! Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Experimentieren und Beschreiten neuer Pfade sowie ein angenehmes Sommersemester – vergessen Sie nicht Ihren Kompass und ausreichende Pausen.
Für das Team vom Medienzentrum,
Sebastian Plönges & Ralf Appelt